„Scheiss auf die Farbe!“

…las ich schockiert als Betreff einer Email.

Gestern fiel es mir wieder ein – das Zitat.

Anlässlich des Neubaus eines Kindergartens war nämlich kürzlich in der Baunetz zu lesen:

„Um die Phantasie der Kinder anzuregen, haben die Designer [...] auf Farbe vollständig verzichtet.“

Begleitend zum Text waren dort etliche Bilder zu sehen, welche belegten, dass es sich hier beileibe nicht um den Schreib/Denkfehler eines Journalisten handelt.

Gedrechselter ausgedrückt zwar, im Klartext aber wie die Überschrift dieser Seite.

Diese bestechende Logik die dahinter steckt! Vergleichbar anderen Sprüchen wie „Hunger ist der beste Koch“ und verwandtem Blödsinn. Im Ernst, wenn der Magen so richtig durchhängt, ist man nicht wählerisch und würde alles essen (bis sich erste Sättigungsgrade einstellen). Wer kennt nicht die Verzweiflung des Hungrigen vor der Speisekarte?

Ohne Bücher lernt man besser lesen, ohne Wasser schneller schwimmen, eigentlich hätte man um die Phantasie anzuregen auch auf Licht verzichten können, oder? Kaspar-Hauser lässt grüßen. Polemisch? Nein. Es fällt einem gleich noch anderer (bau)pädagogischer Unsinn ein. Gab es da nicht einmal das absichtsvoll „fensterlose Klassenzimmer“? Begründung: Gleiche (Kunst)lichtverhältnisse für jeden Schüler. (Boaah, echte Demokraten). Zugegeben, das ist schon mehrere Jahrzehnte her. Aber wie sagte doch dieses Jahr anderenorts ein dekorierter Architekt mit goldenem Schnitt in der Brust auf Wünsche und Einwände von Nutzern eines Jugendheims? Sinngemäß , „..von Ästhetik verstehen wir mehr…“ Und damit waren die Bedürfnisse der „niederen“ Praxis vom Tisch, und entstand ein Gebäude, das auf die Nutzer so passte wie der XXL-Nadelstreifenanzug zum 12jährigen … nur ja keine Flecken machen! Eigentlich zum Weinen, aber vielleicht besser geeignet für einen frommen Wunsch nach 10 kleinen Sprayerlein … Ja, ja die „Ästheten“…

Es ist Zeit für das Morgenstern-Gedicht, denn anscheinend ist das Problem schon länger bekannt.

Christian Morgenstern

Der Ästhet

Wenn ich sitze, will ich nicht
sitzen, wie mein Sitz-Fleisch möchte,
sondern wie mein Sitz-Geist sich,
säße er, den Stuhl sich flöchte.

Der jedoch bedarf nicht viel,
schätzt am Stuhl allein den Stil,
überläßt den Zweck des Möbels
ohne Grimm der Gier des Pöbels.


Danke an Christian R. für den Hinweis auf die weiße Kiga und die passende Überschrift ;)

Mehr über Christian Morgenstern